
„Ich möchte leben“
Selma Merbaum
Lesung und Musik zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938
Maria-Sibylla-Merian-Gymnasium Telgte • Aula
Mittwoch • 13. November 2024 • 17.00 – 18.00 Uhr
Selma Merbaum (1924-1942)
Welke Blätter
Plötzlich hallt mein Schritt nicht mehr,
sondern rauschet leise, leise,
wie die tränenvolle Weise,
die ich sing’, von Sehnsucht schwer.
Unter meinen müden Beinen,
die ich hebe wie im Traum,
liegen tot und voll von Weinen
Blätter von dem großen Baum.
Warum erinnern? Gedanken zum Anfang
von Anna Laufer, EF (Jg. 11)
Warum erinnern wir uns immer wieder? Warum gedenken wir Jahr für Jahr? Ist es nicht genug, könnte man fragen. Haben wir es nicht längst verstanden? Warum sprechen wir immer wieder vom Leid der Vergangenheit, wenn die
Gegenwart doch nach vorne drängt? Warum quälen wir uns mit den Wunden von damals, wenn wir doch an die Zukunft denken sollten?
Die Jugend fragt: Warum? Warum immer wieder die gleichen Bilder? Warum diese dunklen Kapitel, die uns doch in den Herzen schwer belasten? Ist es nicht überholt, nicht längst vorbei? Der Krieg, die Toten, das Schreien – sollte
das nicht ein für alle Mal hinter uns liegen?
Doch haben wir wirklich alles verstanden? Haben wir gelernt, was es bedeutet, wenn Hass und Ausgrenzung sich langsam ausbreiten und die Menschlichkeit verloren geht? Blicken wir nicht in die heutige Welt, in der alte Parolen wieder erklingen, wo Menschen erneut in Angst leben, weil rechte Kräfte erneut erstarken?
Die Wahlergebnisse zeigen uns deutlich, dass die Vergangenheit nicht wirklich vorbei ist. 32,8 Prozent in Thüringen für eine Partei, die mit Angst und Spaltung arbeitet. So fing es einst an, so fängt es scheinbar wieder an. Haben wir wirklich verstanden, oder beginnen wir, die alten Fehler zu wiederholen?
Also fragen wir uns: Warum erinnern wir uns?
Weil die Schatten der Vergangenheit nicht ruhen.
Weil die Stimmen der Opfer uns immer noch mahnen.
Weil Schweigen bedeutet, Unrecht zuzulassen.
Ist es genug, nur zu wissen?
Ist es genug, nur zu gedenken? Nein, es ist nie genug. Denn wer aufhört zu erinnern, beginnt, Geschichte zu verdrängen.
Die Erinnerung ist unser Mahnmal. Sie ist die Brücke zur Menschlichkeit, die uns lehrt: Es darf nie wieder geschehen, dass Menschen durch Hass und Ausgrenzung in Dunkelheit fliehen. Deshalb stehen wir heute hier –
nicht aus Gewohnheit, nicht aus Pflicht, sondern aus Verantwortung. Die Gegenwart fragt uns: Habt ihr wirklich gelernt? Und unsere Antwort muss lauten: Ja, wir erinnern uns – weil wir es müssen.
Solange wir uns erinnern, haben wir die Chance, eine Zukunft ohne Angst zu gestalten.

Selma Merbaum (1924-1942)
Poem (07.07.1941)
Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.
Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?
Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.
Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann…
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.
Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.
Selma Merbaum
Selma wird 1924 im multikulturellen Czernowitz geboren, dass damals zu Rumänien gehörte. In ihrer Familie spricht sie Deutsch, in der Schule Rumänisch. Sie ist Mitglied der jüdischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair
und schreibt in ihrer Freizeit viele Gedichte, die heute zur Weltliteratur zählen. Einige widmet sie Lejser Fichman, in den sie verliebt ist. Ihr bis dahin unbeschwertes Leben verändert sich mit der Errichtung eines Ghettos in
Czernowitz im Oktober 1941. Von dort aus wird Selma im Sommer 1942 in ein Zwangsarbeitslager nach Transnistrien verschleppt. Sie muss im Straßenbau arbeiten und erkrankt an Fleckfieber. Selma stirbt mit nur 18 Jahren.
Quelle: Verfolgung von Jugendlichen im NS – Selma Meerbaum-Eisinger (verfolgung-von-jugendlichen-im-ns.de) 18.09.2024
Selmas Gedichte sind „gemeinfrei“, da sie 1942 starb und somit ist sie bereits länger als 70 Jahre tot. Ihre Werke dürfen daher von jedermann ohne Einschränkungen genutzt werden. Wir bedanken uns bei dem Verlag Hoffmann & Campe für diese Information und empfehlen allen, sich mit dem Werk Selma Merbaums zu befassen, es weiterzuempfehlen und zu verbreiten!
Begrüßung der Schulleiterin Mechthild Rövekamp-Zurhove
„Emotionale Gleichgewichtsstörung“ lautet der Titel eines Buches des Journalisten Jürgen Wiebicke. Corona-Krise, Ukraine-Krieg, Trumps Sieg und Auflösung der deutschen Regierung: Da kann einen schon die emotionale
Gleichgewichtsstörung erfassen. Wiebicke schreibt vom Gegenmittel: „Wenige bewirken viel. In Zahlen ausgedrückt können hundert Aktiv-Bürger einen Ort mit zehntausend Einwohnern so verwandeln, dass er sich durch seinen
Gemeinsinn von einem Nachbarort mit vergleichbaren Sozialstrukturen grundlegend unterscheidet.“
Heute gehören Sie, gehört Ihr zu den hundert Menschen, die den Unterschied machen in Telgte.
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Pieper, liebe Frau Dr. Elkeles,
liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Eltern, liebe Gäste:
Ich begrüße Sie zu unserer Gedenkfeier. Und ich danke allen, die mitgewirkt haben an der Vorbereitung, allen, die die Feier mitgestalten, und allen, die gekommen sind.
In dieser schwankenden Welt können wir etwas tun. Fester Boden lässt sich gewinnen. Wir können erinnern und wir können unseren Kompass ausrichten. Wir vergessen nicht, was Ausgrenzung anrichtet. Wir vergessen nicht, welche
Schätze wir jüdischen Menschen verdanken, jüdischen Menschen wie Selma Merbaum und Rose Ausländer.
Programmablauf
- Warum erinnern? Offene Fragen zum Beginn (Robert Niehaus, Schüler*innen der EF (Jg. 11))
- Begrüßung (Mechthild Rövekamp-Zurhove, Dr. Barbara Elkeles)
- Einführung (Wolfgang Pieper, Bürgermeister)
- Musik (Martin Helfen und Schüler*innen)
- Selma Meerbaum-Eisinger – Biographisches (Yvonne Geiß, Ines Schweizer, Schüler*innen Klasse 10a)
- Selma Meerbaum Eisinger: „Poem“ (Ausschnitt) – Lesung, Illustration (Alina Werner, Schüler*innen Klasse 10d, Greta Lange)
- Höreindrücke, Assoziationen als „Gedankenteppich“ (Yvonne Geiß, Katharina Heitkötter, Ines Schweizer, Alina Werner, Schüler*innen 10a)
- Musik (Martin Helfen und Schüler*innen)
- Rose Ausländer „Blinder Sommer“ (Alina Werner, Schüler*innen Klasse 10d, Linnea Thelen)